Wenn wir über Demokratie sprechen, dann denken die meisten erst einmal ans Wählen. Klar, denn Wählen ist auch der demokratische Akt, den jede und jeder immer wieder erleben kann. Außerdem spielt Wählen natürlich auch die entscheidende Rolle in einer repräsentativen Demokratie wie der unseren.
Allerdings gibt es noch ein weiteres, viel weniger beachtetes demokratisches Prinzip: den Zufall! Tatsächlich spiegelt das Losprinzip die demokratische Idee in ihrer Reinform. Nicht umsonst hat es in der Geschichte der Demokratie immer wieder eine große Rolle gespielt. So auch in der ersten bekannten Demokratie der Welt: Der Polis des Stadtstaats Athen im antiken Griechenland des 4. und 5. Jhd. vor Christus. Dort erfolgte z.B. die Besetzung der Volksgerichte oder des Rats der 500 per Los. Letzterer war für die Vorbereitung politischer Entscheidungen zuständig und die gelosten Mitglieder waren jeweils für ein Jahr bestellt, bevor wieder neue Ratsmitglieder ausgelost wurden.
Vor dem Los sind alle gleich. Ganz egal, welcher gesellschaftlichen Gruppe man sich zugehörig fühlt, wie alt, gebildet, wie vermögend oder eloquent man ist. Jede und jeder hat die gleiche Chance. Natürlich war das damals in Griechenland aus heutiger Sicht nicht ganz so perfekt: Denn für die Losauswahl kamen dort nur Männer mit Bürgerrechten infrage – und damit nur die überschaubare und insgesamt wohl eher homogene Elite der dortigen Gesellschaft. Das schmälert das urdemokratische Potenzial des Losens aber nicht. Denn der Zufall ist der große Gleichmacher. Dennoch spielt das Los in modernen Demokratien kaum eine Rolle. Nur bei der Auswahl von Geschworenen oder Schöffinnen und Schöffen im Bereich der Rechtsprechung hat es heute noch als Institution einen festen Platz.
Bürgerforen und Co. – der Zufall macht den Unterschied
Allerdings erlebt der Zufall seit einigen Jahren eine demokratische Renaissance. Bei der dialogischen Bürgerbeteiligung ist er sogar zu einer Art Goldstandard avanciert. Die vielbeachteten Bürgerräte oder Bürgerforen, die im Kern aus Gruppen von zufällig ausgewählten Menschen bestehen, funktionieren überhaupt erst auf Grund des Zufallsprinzips. Denn die Tatsache, dass es das Los ist, das entscheidet, wer in einer solchen Gruppe mitarbeiten darf, schafft ganz besondere Voraussetzungen:
- Erstens kann es vielfältige Gruppen hervorbringen, die deutlich breiter zusammengesetzt sind als die meisten gewählten Gremien.
- Zweitens ermöglicht das Losen, dass sich niemand als Fürsprecher oder Vertreter einer Position, Partei oder irgendeiner abgrenzbaren Gruppe verstehen soll oder muss. Im Gegenteil: All das spielt keine Rolle. Was wiederum die Offenheit für einen konstruktiven Austausch und die gemeinsame Abwägung von Argumenten rund um ein Thema oder eine Fragestellung schafft.
- Drittens haben ausgeloste Personen mehrheitlich keine final feststehenden Meinungen oder Sichtweisen zum Thema. Sondern nur ihre individuelle Sicht, die von ihrer jeweiligen Lebensrealität ausgeht. Genauso, wie es für den großen Teil der Bevölkerung der Fall ist.
Diese besonderen Voraussetzungen ermöglichen, dass in der Gruppe ein verständigungsorientierter Austausch stattfinden kann. In der Fachwelt wird dieser gerne als Deliberation bezeichnet. Damit soll die besondere Qualität des Gesprächs zum Ausdruck kommen, die sich grundlegend von Diskussionen, Verhandlungen oder gar Parlamentsdebatten unterscheidet. Deliberation bedeutet, dass die Gruppe gemeinsam die Stichhaltigkeit von Argumenten abwägt, die ihnen von eingeladenen Interessengruppen, Expertinnen und Experten oder Betroffenen zu einem Thema vorgetragen werden. Natürlich sind neben dem Los noch viele weitere Elemente notwendig, um diese besondere deliberative Qualität in einem Zufallsgremium Wirklichkeit werden zu lassen. Zum Beispiel eine unabhängige und methodisch versierte Moderation und natürlich einen klare Auftrag etwa von einem Gemeinde- oder Stadtrat.
Das Los in der Praxis - die kriterienbasierte Zufallsauswahl
Die aufgezählten Punkte sind beeindruckende Vorteile, die nur der Zufall in demokratischen Prozessen entfalten kann. Aber es ist wichtig zu betonen, dass in der Praxis trotzdem nicht mit dem reinen Zufall hantiert wird. Stattdessen kommt die kriterienbasierte Zufallsauswahl zum Einsatz. Das liegt allerdings überhaupt nicht am Zufall selbst, sondern an der Tatsache, dass die Teilnahme an einem Zufallsgremium freiwillig ist. Das bedeutet, dass Personen, die per Los ausgewählt werden, sich natürlich auch dagegen entscheiden können, ihr Losglück anzunehmen. Insgesamt macht das meistens sogar die große Mehrheit der Ausgelosten. Bei Bürgerforen in Baden-Württemberg liegt der Rücklauf normalerweise bei 3-7%.
Das wäre nicht problematisch, wenn alle Menschen mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu- oder absagen würden. Das tun sie allerdings nicht. Vielmehr ist es erwiesenermaßen so, dass manche Personengruppen eher absagen als andere. Würde man das nicht berücksichtigen, wären die meisten Losgremien mit pensionierten Herren oder engagierten Studenten besetzt. Vollzeit-Berufstätige, Eltern, Menschen ohne Hochschulabschluss, Jugendliche oder Kinder wären dagegen nur selten dabei. Wie gesagt: Nicht wegen des Zufalls, sondern wegen der Freiwilligkeit der Teilnahme.
Glücklicherweise können wir dieser Verzerrung mit der kriterienbasierten Zufallsauswahl sehr gut begegnen. Man muss das so verstehen, dass für den Prozess der Zufallsauswahl Regeln festgelegt werden. Vergleichbar ist das mit der Entscheidung zwischen einem Münzwurf oder einem Würfel. Beide funktionieren nach dem Zufallsprinzip. Allerdings mit unterschiedlichen Regeln: Kopf oder Zahl bzw. die Möglichkeiten eine Zahl zwischen Eins und Sechs zu würfeln. Auf die kriterienbasierte Zufallsauswahl übertragen bedeutet das, dass die angestrebte Vielfalt des Losgremiums als Rahmen für die Auslosung vorab festgelegt wird. Um es nochmals klar zu sagen: Es entscheidet immer das Los. Wir bilden aber verschiedene Lostöpfe. Dieses Vorgehen ist in Baden-Württemberg sogar gesetzlich geregelt. Das Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung (DBG) schreibt es vor. Die Lostöpfe können aus Kombinationen der Kriterien Alter, Wohnort, Geburtsort und Geschlecht entstehen. Die Einwohnermelderegister bieten diese Informationen zu allen Einwohnerinnen und Winwohnern. Das macht es besonders leicht, sie bei der kriterienbasierten Zufallauswahl zu berücksichtigen. Denn es ist natürlich wünschenswert, dass ein Losgremium z.B. jeweils zur Hälfte aus Frauen und Männern besteht. Oder dass Personen aus allen Altersklassen dabei sind. Es werden deshalb mithilfe dieser Kriterien immer von vorneweg gleich viele Frauen und Männer, Ältere und Jüngere angeschrieben. Wegen der Problematik mit der Freiwilligkeit erhalten allerdings sehr viel mehr Personen eine Einladung, als tatsächlich Plätze im Losgremium verfügbar sind. Wenn sich die Eingeladenen anschließend nach und nach zurückmelden, werden die vorher festgelegten Kriterien wieder beachtet: Hierfür kommen unsere Lostöpfe wieder zum Einsatz.
Das Verfahren kann noch weiter verfeinert werden, indem mit der Rückmeldung der Eingeladenen noch weitere Merkmale abgefragt werden. Zum Beispiel zum höchsten Bildungsabschluss, dem Erwerbstätigkeitsstatus, der Haushaltsgröße in der die Menschen leben oder zum Migrationshintergrund. Diese Merkmale können dann bei der Sortierung der Rückmeldungen auf die Lostöpfe ebenfalls berücksichtigt werden. Allerdings nicht in beliebiger Zahl, weil jedes weitere Kriterium das Losen schwieriger macht. Gerade wenn nur relativ kleine Losgremien zusammengestellt werden sollen. Dennoch erlaubt und regelt das Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung die Nutzung dieser zusätzlichen Kriterien. Denn insbesondere die Frage nach dem Bildungsabschluss hat sich als wichtig erwiesen um Verzerrungen auszugleichen, die sich aus der Freiwilligkeit der Teilnahme ansonsten oft ergeben. Denn es melden sich eher Menschen mit Abitur zurück.
Zu guter Letzt entscheidet dann ein zweites Mal das Los, wer aus den einzelnen Lostöpfen tatsächlich einen Platz im Gremium erhält. Mit diesem Verfahren einer zweistufigen kriterienbasierten Zufallsauswahl stellen wir für Bürgerforen in Baden-Württemberg sicher, dass das erwünschte Ziel des Zufalls erreicht wird: Die Zusammenstellung einer möglichst vielfältigen Gruppe.
Die Servicestelle Bürgerbeteiligung hilft beim Losen
Es gehört zu den Kernaufgaben der Servicestelle Bürgerbeteiligung, die Zufallsauswahl in jedem Einzelfall zu koordinieren. Egal, ob ein Zufallsgremium in einer Stadt, einer Gemeinde, für eine Landesbehörde oder ein staatliches Unternehmen gebraucht wird. Wir ermöglichen die Umsetzung der Zufallsauswahl. Eine Herausforderung sind dabei vor allem die Fälle, in denen es sich nicht um eine Kommune handelt. Denn auf die Einwohnermelderegister, die für die Zufallsauswahl genutzt werden, kann nur über die Kommunen selbst zugegriffen werden. Im Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung ist in Baden-Württemberg allerdings klar geregelt, wann die Kommunen Daten aus den Melderegistern zum Zweck der Bürgerbeteiligung zugänglich machen müssen. Das Gesetz ermöglicht es damit auch Bürgerforen auf Landesebene oder für eine Region wie z.B. einen Landkreis oder einen Regionalverband umzusetzen. Aktuelle Beispiele aus unserer Arbeit dazu sind die Bürgerforen zu G8/G9; den Ostalb-Kliniken; oder für die Suche nach einem neuen Deponiestandort des Verband Region Stuttgart.
Sie haben noch Fragen zur Zufallsauswahl bei Bürgerforen? Wir freuen uns auf Ihre Nachricht!